Revolucionarios cibernéticos

Revolucionarios cibernéticos

Heute vor 50 Jahren, am 11. September 1973, putschte die chilenische Armee mithilfe der CIA gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende und beendete damit das sozialistische Experiment in Chile. Dieses Ereignis und in Folge die Solidaritätsbewegung haben mich und viele linke und fortschrittliche Menschen meiner Generation politisch mitgeprägt. Für uns war Chile der Beweis, dass der Weg zum Sozialismus mit friedlichen und demokratischen Mitteln möglich sei, wenn die fortschrittlichen Kräfte vereint agieren. Das habe ich damals gelernt: el pueblo unido jamás será vencido. Und auch wenn die Losung nach dem 11. September 1973 zunächst widerlegt schien, so zeigte das Jahr 1988, dass die Diktatur nicht ewig dauern kann und die Proteste von 2019 und 2020 und darauf folgende Wahl von Gabriel Boric im Jahr 2021 demonstrieren trotz vieler Rückschläge, Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie machen.

In diesem Kontext erzählt Eden Medina in Revolucionarios cibernéticos von dem Versuch, ein Computernetzwerk aufzubauen, das den sozialistischen Umbau der chilenischen Wirtschaft unterstützen sollte. Anhand von umfangreichem Archivmaterial und Interviews untersucht Medina das von der chilenischen Regierung geplante kybernetische System, das eine dezentrale Verwaltung des Industriesektors und die Planung der Produktion zum Ziel hatte.

Das Projekt, das unter dem Namen Synco firmierte entstand aus der Zusammenarbeit zwischen dem Kybernetiker Stafford Beer und dem Ingenieur Fernando Flores, der unter Allende verschiedene Ministerposten innehatte, sowie der Beteiligung zahlreicher chilenischer und auch britischer Fachleute.
Synco war als System konzipiert, das Produktionsdaten in Echtzeit erfassen, statistische Programme entwerfen, Computersimulationen der chilenischen Wirtschaft erstellen und mit den Fabriken kommunizieren sollte, wenn Probleme festgestellt wurden, die deren Leistung beeinträchtigten. Das Projekt war somit ein Teil der Umgestaltung der chilenischen Wirtschaft, die durch ein Programm zur Verstaatlichung der Produktion gekennzeichnet war. Es unterscheidet sich von anderen Projekten der gleichen Zeit, wie das ARPANET in den Vereinigten Staaten und ähnliche in der UdSSR, da es weder militärisch entwickelt wurde, wie im ersten Fall, noch auf die Einführung einer vertikalen Kontrolle der Produktion abzielte, wie im zweiten Fall. Stattdessen traf sich der von Allende eingeschlagene Weg zum demokratischen Sozialismus mit den kybernetischen Ideen von Beer, der mit seinem Modell des lebensfähigen Systems vorschlug, ein nicht-hierarchisches, dezentrales Verwaltungssystem zu schaffen.

Medinas Analyse des Synco-Projekts dreht sich um drei grundlegende Achsen. Erstens stellt sie die Frage, die durch Langdon Winners klassischen Aufsatz „Do art facts have politics? “ veranschaulicht wird, ob Politik durch technologische Entwicklungen beeinflusst werden kann.
Zweitens analysiert sie im Rahmen der Dependenztheorie, wie Chile mit einer wissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Kultur, die von einer intellektuellen und materiellen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten und Europa geprägt war, ein Projekt dieser Dimension hervorbringen konnte. Und umgekehrt, warum ein Projekt des Kalibers von Synco nicht in den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion oder Europa entwickelt wurde.
Drittens erörtert sie die internationale Dimension, die Synco als Kooperationsprojekt zwischen chilenischen und britischen Fachleuten prägte.
Medinas Buch ist insofern ein interessanter Beitrag zur Geschichte der Technologie in Lateinamerika und gleichzeitig ein bisher wenig thematisierter Aspekt der politischen Zeitgeschichte Chiles.

Im Rahmen der sich gerade wieder entwickelnden Socialist Calculation Debate, die sich darum dreht, wie ein Wirtschaftssystem ohne Preise und Markt als Steuerungsparameter funktionieren kann, gewinnt auch Synco wieder erhöhte Aufmerksamkeit. Auch deshalb lohnt es sich, Revolucionarios Cibernéticos zu lesen.

Anmerkung: In einigen Teilen meines Textes stütze ich mich auf eine Renzension von Josep Simon